Shit happens - was wirklich passierte
- soenk3
- 18. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Juli

Es waren nicht nur gefühlt die längsten Weihnachtsferien seit Menschengedenken. Aufgrund der Corona-Pandemie war der letzte Schultag Freitag, der 18.12.2020. Geplant war der 23.12., aber die Schulen wurden am 18.12. wegen Corona so was von verriegelt, dass mir nur noch die Flucht in die Berge blieb. Erst noch wurde Weihnachten gefeiert. Dafür konnte man, dank sei dem Bundesgesundheitsminister oder irgendwelchen sonstigen Behörden, ausnahmsweise in den Familien zusammenkommen. Aber es war trotzdem merkwürdig. Der Christkindlsmarkt war von der Regierung schon rechtszeitigst davor abgeblasen worden. Es war fast Weihnachten ohne Weihnachten.
Die Korrekturen hatte ich schon an den Tagen vor dem Fest beendet. Frei hatte ich bis zum 10. Januar 2021!! Für einen bewegungssüchtigen Menschen wie mich war jeder Tag, an dem ich nicht an der frischen Luft war, ein verlorener Tag. Ich hatte mich schon auf einigen Bergtouren zur Genüge „warm gemacht“, als es wieder, zur Abwechslung, in die Berge ging. Denn dort war ich schon mindestens zwei Tage nicht mehr gewesen. Für den 5. Januar hatte mein Kumpel Christian dementsprechend eine Mischung aus Skitourengehen und Klettern am Brauneck auf dem Plan. Wir genossen den sonnigen Tag.
Zur Nacht brachten wir uns am Kocheler Kesselberg in Stellung. Am Parkplatz, von dem aus direkt ein Weg in den Wald führte, an dem wir früh am nächsten Morgen in Richtung der Nordwand steigen wollten. Wir wollten einen ihrer „Gullies“ mit Steigeisen und Eisgeräten zu begehen. Eisgeräte sind spezielle Pickel zum Steileisklettern. „Gullies“ werden im Eiskletterjargon rinnenartige Vertiefungen oder mäßig tiefe, wasserführende Schluchten in einer Wand genannt. Wasserführend wie Gullies. Das Wasser ist im Winter gefroren und lädt, wer immer sich traut, zum Eisklettern ein. Die Nordwand des Jochbergs bietet die längsten Eiskletterrouten Deutschlands. 500 Meter Eis und gelegentlich Schnee. Es war mein Wunsch gewesen, wenigstens einmal die Jochberg-Nordwand zu gemacht zu haben. Nachdem es diesen Winter schon recht kalt gewesen war, musste das Eis gut sein.
Wir übernachteten im Campingbus und starteten am frühen Morgen. Der Weg führte zu einem mächtigen Gerinne. Es zeigt, mit welcher Wucht bei manchen Gewitter das Geröll talwärts gleitet. Hier waren bereits Fußspuren zu sehen, die bewiesen, dass wir nicht die ersten waren. An diesem Gerinne liefen wir bergauf, bis wir automatisch am „linken Gully“ landeten: ein markanter Einschnitt in der Nordwand, an dem man sich nicht des Sommers bei Starkregen aufhalten sollte. Hier waren ein paar Leute gemütlich am Einbinden. Eine weitere Seilschaft war gerade erst am Einsteigen. Wir stellten uns in die Schlange und machten ein zweites Frühstück.
Für uns war es die erste Eisklettertour diesen Winter. Wahrscheinlich war es für mich schon mindestens ein Winter ohne Eis gewesen. Im Zuge des aktuellen Klimawandels muss man, um weiterhin Wasserfalleis zu finden, immer höher steigen. Manchmal ist es einfach zu weit. Und wenn es richtig gut ist, fehlen einem meistens die Partner. Scheiß aufgefallene Hobbies! Und sowieso kam ich langsam von den tendenziell gefährlichen Sportarten ab, wie Eisklettern, Tradklettern ("traditionelles" Alpinkletternalpines, das manchmal wagemütig, manchmal schlichtweg gefährlich ist), Motorsport und Wingssuitflying. Letzteres machte sowieso nicht. Motorsport machte ich mittlerweile nur, wenn ich von der Schule in die Berge raste, um eine Skitour zu gehen. Ich wollte wenigstens noch vor der Dunkelheit am Start sein. Mit meinem 30 Jahre alten T3, Spitze 110, waren dem motorsportlichen Training soundso enge Grenzen gesetzt. Selig, der zwei Autos hat.
Motorsport hin und her, man muss sich auch fit halten für alpine Gletschertouren oder winterliche Bergtouren, und das Eisklettern war zumindest als Training mal wieder angesagt.
Christian war der ideale Partner für das Unternehmen. Er zählte, von den ersten Kletterversuchen an, 60 Jahre Erfahrung, aber er war mir konditionell überlegen, im Eisklettern glaub ich auch. Außerdem passte es vom Menschlichen her, er war nett und lustig und für jede Schandtat zu haben.
Die erste Seillänge war schwer. Nicht von der Schwierigkeit her, aber von den Sicherungsmöglichkeiten. Wenn man wirklich fliegen sollte, käme man, wenn man Glück hat, nach 15 Metern etwas unsanft am Fuß der Wand an. Oder vielleicht etwas unsanfter. Endlich war eine Stelle gefunden, an der man zur Not einen Stand bauen konnte. Christian kam nach und übernahm die zweite Länge. Die zweite Seillänge war, bis auf den Anfang, nicht schwer. Die dritte Seillänge, in der wieder führte, war vollends pillepalle. Jetzt kam eine einigermaßen schwierige Länge. Davor war noch eine Eiskletterin mit Sichern beschäftigt, und ich durfte kurz eine Verschnaufpause einlegen, da es nur Sinn machte, am guten Eis Stand zu bauen, und das blockierte momentan die Eiskletterin. Wir hielten ein Schwätzchen, bis sie an der Reihe war, und ich an den Stand nachrücken konnte. Ich holte Christian nach. Er kletterte weiter, sobald wir das Sicherungsmaterial gewechselt hatten, und er meisterte die Schwierigkeiten, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann war ich an der Reihe, mit einer Seillänge, die der von Christian in nichts nachstand. Für den Eiskletterprofi einfaches Klettern, für mich, ohne Übung, zunächst eine kleine Herausforderung, zumindest im Vorstieg. Zehn Meter, dann wurde es wesentlich leichter, aber die Seillänge zog sich. Schon kam ich an Terrasse, die zum Standbau einlud. Ich hatte bereits zweimal zu Christian gerufen, wie wieviel Meter Seils noch blieben. Keine Antwort. Christian stand in einer Position, von der aus er mich offensichtlich nicht hörte. Das ist beim Klettern oft der Fall. Also hoffte ich, dass die 60 Meter Seil noch bis zur Wand mit dem solidem Eis reichen würden, um, wie beim Eisklettern gewohnt, mit meinem beiden Schrauben Stand zu machen. Ärgerlicherweise war das Seil zu kurz. Es fehlten nur zwei Meter. Zuviel! So war ich in der Zwickmühle. Ich sah gleich den gigantischen Felsblock, der ungefähr fünf Meter von der Wand entfernt lag. Der taugte optimal für den Stand. Bloß stand er voll in der Schußlinie. Eventuelle Steinschläge hätten in mir ein willkommenes Ziel. Erfahrunggemäß ist es, wenn man direkt unter der Wand steht, nicht ganz so gefährlich. Was tun? Zurückklettern, um einen sichereren Stand zu bauen? Vermutlich müsste ich weiter zurücksteigen, worauf ich keine Lust hatte und – gefährlich war es auch. Ich hatte aufgrund mangelnder Sicherungsmöglichkeiten länger keine Sicherung gelegt. Bergauf kletternd ging das grade noch, aber bergab war das gefährlicher. Oder Christian zum Nachkommen veranlassen? Wenn das Seil aus ist und der Vorsteiger länger sich nicht bewegt, sollte der Nachkletterer automatisch nachsteigen, bis der Vorsteiger einen Stand hat. Aber wenn der untere Kletterer abfliegt, dann reißt er den oberen mit. Es fehlten nur zwei Meter. Wenn Christian mir nur zwei Meter Seil geben würde, bevor er in die steile Eiswand einstieg, würde es auf jeden Fall reichen. Nur wie sollte ich ihm das klar machen, ohne dass er in Rufweite wäre?
Was also tun? All diese Seilmanöver sind einem teilweise erheblichen Zeitaufwand verbunden. Und: Schnelligkeit ist Sicherheit. Also: nicht fackeln – ich machte Stand am Block. Bisher hatten mich bei weit über 200 alpinen Klettertouren gerade zwei, drei Steine erwischt, einmal ein wenig größer. Den hätte ich ohne Helm auch leicht überstanden. Es wird auch diesmal gutgehen.
Christian war schnell da, er bekam die nächste Seillänge. Schnell noch ein paar Selfies gemacht, schon ging es weiter. Ich denke, ich sah ihn noch über der Terrasse verschwinden – und danach setzte meine Erinnerung aus. Ein Stein hatte mich getroffen. Ein sehr großer Stein war direkt auf meinem Schädel eingeschlagen. Aber das kriegte ich nicht mehr mit.













Kommentare