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Blick vom Heimgarten, Thema "zurueck an den Berg"

Schockstarre

  • soenk3
  • 28. Juli
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Aug.

Am 06.01.2025 war mein Bruder Hans mit dem Homeoffice fertig und sah zur Entspannung in den Nachrichten auf CNN, wie ein rechtsradikaler Mob gerade dabei war, in das Kapitol einzudringen, angestachelt von Donald Trump. Die USA stehen offenbar kurz vor einem Staatsstreich. Weltpolitisch also ein ganz normaler Tag.

Da erhielt er einen Anruf von meiner Schwester Maike, die von meinem Unfall wusste. Sie hat die Schauernachricht von Gabi. Gabi hatte es wohl sofort und direkt von Christian gehört, meinem Seilpartner.


Hans hat von Anfang an Dokumente gesammelt und ein Tagebuch geschrieben, aus dem man einen Eindruck kriegt, wie ihn und Gabi, meine Schwester und Eltern, meine Verwandten und Freunde das Geschehene traf. Er hat das Tagebuch direkt an mich adressiert, ohne zu wissen, ob ich im nächsten Augenblick sterben, als kompletter Pflegefall enden würde, oder was in der Zukunft rein geistig von mir zu erwarten wäre. Er konnte die Spannung und die Trauer scheinbar nicht aushalten, ohne die Ereignisse in irgendeiner Form zu verarbeiten. Ich bin ihm heute zutiefst dankbar, weil das Wissen um meinen Unfall und was danach geschah, ein für alle Mal verloren gegangen wäre. Jetzt kann ich auf dieses Tagebuch zurückgreifen, angereichert durch meine eigenen Erinnerungen und die meiner Frau Gabi.


Hans hat eine Freundin in der Klinik, Christine*. Sie arbeitet dort als Radiologin. Aus den Bildern, die sie ihm schickte, wird klar, dass es ein ziemlicher Brocken gewesen sein musste, der da auf mich heruntergefallen war. Er hatte auf der linken Seite des Schädels eine verdammt große Delle geschlagen. Christine erklärte ihm einfühlsam, aber ehrlich, dass es eine schwerste Verletzung darstellte und dass es sehr lange dauern würde, bis ich mich, wenn überhaupt, erhole.


Mein Bruder ist Familienvater mit zwei absolut süßen Kindern, trotzdem ist der Bruder einmal wichtiger. Er fährt zum Unfallort, um einen Eindruck vom Unfallgeschehen zu kriegen und um nach meinem Auto zu sehen. Auf dem Weg telefoniert er mit Gabi, die ihm erzählt, dass Christian vor Kurzem bei ihr war, um den Autoschlüssel für mein Auto zu holen. Er verpasst ihn wohl um Haaresbreite: Mein Bus ist weg. Dann fährt er nach Murnau.

Ausgerechnet jetzt ist die höchste Alarmstufe für Corona wieder eingeläutet worden, so schlimm, dass nicht nur die Schüler, sondern ausnahmsweise auch die Lehrer zuhause bleiben „dürfen“. Zu mir gibt es also im Krankenhaus kein Durchkommen. Abends telefoniert er mit Christian. Christian schildert ihm die Ereignisse aus seiner Sicht. Er habe noch gerufen: „Wie viel Seil hab ich noch?“ „Zehn Meter“. Endlich sei die Möglichkeit gekommen, einen Stand zu bauen. „Sönke, Stein“, rief er. Verflucht, wo kam der her?

Von unten seien keine Rufe mehr gekommen. Von seiner Position konnte er mich nicht sehen. Ich gab anscheinend auch nicht das Seil frei, damit er es hochziehen konnte. Er wusste relativ schnell, dass irgendetwas im Argen war und rief schleunigst die Bergwacht an.

Ich habe in meinem Leben mindestens viermal die Bergwacht gerufen. Immer wegen mir unbekannten Kletterern. Davon waren zwei Bergsteiger (vermutlich) bereits kurz nach dem Unfall tot, einer war schwer verletzt. Jetzt war ich selber dran. Und es war keine Zeit zu verlieren.



Am 9.1. beschreibt Hans die Lage: „Du fieberst, was für Patienten mit Kopfverletzungen wohl typisch ist. Dein Blut wird deshalb über einen Katheter auf 38° gehalten. Dein Kreislauf ist stabil. Du wirst weiterhin beatmet. Zum ersten Mal ist die Rede davon, dass eventuell am Montag damit begonnen werden könnte, dich aufwachen zu lassen."


Die Information, dass ich ohne Helm geklettert sei, stellt meine Verwandten vor ein Rätsel. Christian hatte gesehen, dass ich nur mit einer Mütze geborgen wurde. Wie konnte das sein?


Meine Frau Gabi erfährt von Leonhard Speer, meinem ehemaligen Kollegen und Alpinist, mit dem ich viele große Touren gemacht hatte, dass er einen Arzt in Murnau kennt. Ich kenne ihn angeblich auch von zwei Skitouren: Thomas*. Er kommt erst aus dem Urlaub zurück, aber die Erwartung ist groß, dass Gabi mit seiner Hilfe zu mir durchgelassen wird, vielleicht auch mein Bruder Hans.


Einen Tag später schrieb mein Bruder, mein Zustand sei stabil, und der Druck im Gehirn sei im Rahmen, sodass man ihn senkrecht lagern könne. Dies sei Voraussetzung für einen Luftröhrenschnitt, der leider nötig wäre, um mein Aufwachen zu erleichtern: Die Beatmung durch den Mund würde einen starken Würgereiz hervorrufen und mich am Sprechen hindern.

Mit Spannung erwarteten Gabi, Hans, Eltern, Schwester und alle meine Verwandten und Freunde, die von dem Unfall mitbekommen hatten, den Zeitpunkt meines Aufwachens.


Christian hatte sich schriftlich an den Bergführer, der bei der Rettung dabei, gewandt, weil es ihn sehr beschäftigte, dass ich bei der Rettung offensichtlich keinen Helm getragen hätte. Am 11.1. erhielt Christian die Antwort: „Dein Seilpartner hatte zu 100 % einen Helm auf. Es muss wohl so gewesen sein, dass die Wucht des Aufpralls den Helm zerbrochen hat und er in der Folge verloren gegangen ist. Ich hatte gestern Kontakt mit einem anderen Bergwachtler, der die Tour am Folgetag geklettert ist. Die Jungs haben noch etwas Material bergen können. [...] Jedenfalls wurde dort auch ein Helm gesehen. Scheinbar schwer beschädigt.“ Und zu schwierig zu erreichen, um ihn mitzunehmen.


Aus derselben Mail: „Ein paar Worte seien mir noch erlaubt: Ich denke, ihr hattet vor allem Pech. Ich bin in meiner Bergführer-/Bergwacht-Karriere schon bei vielen Unfällen mit Steinschlag dabei gewesen und bin natürlich auch schon oft selber drin gestanden. Dass jemand derartig zentral getroffen wird, habe ich bis jetzt aber noch nicht erlebt. Man muss es also als das bezeichnen, was es ist: ein Unfall. Wenn ich Zeit gehabt hätte, wäre ich wahrscheinlich auch am Jochberg unterwegs gewesen.“


Als ich aus der Reha nach Hause kam, wollten Hans und ich einmal mit der Drohne meines großen Bruders schauen, ob sich der Kletterhelm finden ließ. Nach dem letzten Stand der Dinge wähnte ich den Helm von der Route aus als unerreichbar.


Nach fast genau einem Jahr, um Silvester, war ich seit langer Zeit in trauter Runde bei meinem Kletterfreund Dennis. Er zeigte mir ein Foto, das sein Freund René gemacht hätte, der die Route am 07.01., einen Tag nach meinem Unfall, solo durchstiegen hatte. Es zeigte die Großaufnahme von einem Kletterhelm. Meinem Kletterhelm. Zweifelsfrei erkennbar durch einen Aufkleber einer Kletterhalle in Stavanger/Norwegen. Ziemlich zerstört und mit reichlich Blutspuren dekoriert. Nun, nach einem Jahr (!), war ohne Zweifel bewiesen: Ich hatte zum Zeitpunkt des Unfalls einen Helm auf! Und er hatte mir das Leben gerettet!

*Namen geändert



ree

 
 
 

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