Auferstanden!
- soenk3
- 19. Aug.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Sept.
Am 12.01.2021 konnten mein Bruder und Gabi mich zum ersten Mal besuchen. Wegen Corona bestand absolutes Besuchsverbot. Dem Kontakt zu Christine* und Thomas* sei es gedankt, dass sie trotzdem zu mir durchkamen. Für mich war das so wichtig wie das tägliche Brot. Wer so schlimm dran ist wie ich und keinen Besuch hat, geht seelisch ein. Selbst wenn er noch im Koma liegt. Heute stelle ich mir die armen Patienten vor, die, was ich hatte, nicht hatten.
Mein Bruder schildert den Besuch: „Du bist umgeben von diversen Maschinen. [...] Diverse Schläuche führen in Deinen Körper und aus ihm heraus. Du hast bereits keinen Tubus mehr im Mund, sondern einen Luftröhrenschnitt bekommen und wirst durch den Hals beatmet. Deine linke Augenregion ist blaugrün, Dein Kopf mit diversen großen Pflastern bedeckt. Unter Deiner Kopfhaut wurde Dir ein Stück künstliche, provisorische Schädeldecke eingepflanzt. So liegst Du da. Dein Mund offen. Fast reglos. Nur manchmal zuckst Du etwas. Es ist, wenn man ehrlich sein soll, ein schlimmer Anblick. Wir kennen Dich nur als starken, muskulösen Ehemann und Bruder. Nun bist Du vollkommen hilflos und bietest einen Anblick, der Gabi und mich zutiefst erschreckt. Klar, wir waren darauf vorbereitet. Aber Dich so vor uns zu sehen, ist eben doch noch etwas anderes.“
Auch Gabi erinnert sich mit Schaudern an die Szene zurück. Von meinem Kopf fehlte ein großes Stück und aus der Lücke quoll geschwollen das Hirn heraus. Doch Thomas machte ihr Mut, mit mir zu reden und mich sogar anzufassen.
Wenn jemand im Koma liegt, kriegt er anscheinend sehr viel mehr mit, als man glaubt. Und das, was er mitbekommt, scheint maßgeblich dafür zu sein, wie groß danach das Trauma ist. Wenn der Mensch im Koma sich geborgen und geliebt fühlt, kann das anscheinend einen großen Unterschied in der weiteren Rekonvaleszenz machen.
Meine Frau und mein Bruder durften, wohl durch ein bisschen Vitamin B, von Zeit zu Zeit kommen. Das war ganz, ganz wichtig! Sogar zu Corona-Zeiten! Wenn ich denke, wie viele Patienten wochenlang ohne Angehörige durchstehen mussten. Zum Teil im Koma. Dass nicht nur ihr Trauma, sondern auch die traumatischen Erfahrungen der Angehörigen zunahmen, steht außer Frage! Das lässt am Management der Seuche zweifeln. Auch wenn es im Nachhinein jeder besser weiß...
Hans wie Gabi schliefen danach schlecht und machten sich große Sorgen um mich. Das Gesehene saß ihnen tief in den Knochen.
Am folgenden Tag telefonierte Hans mit Christine. Die sedierenden Medikamente waren weiter runtergefahren worden. Der Hirndruck war stabil. „Er bewegt seinen linken Arm und öffnet seine Augen.“ Thomas telefonierte mit Gabi, und erzählte ihr, dass er mich besucht habe und den Eindruck habe, dass ich ihn erkannte.
Ich erinnere mich, dass an (wohl an diesem Tag) Sternsinger bei mir waren. Da war ein Arzt, aber ich glaube, ich erkannte ihn nicht als Thomas. Es war ein Doppelzimmer mit einem Sichtschutz, so dass ich den anderen Patienten nicht sehen konnte.
Am 14.1. durften Gabi und Hans wieder zu mir. Ich lasse meinen Bruder berichten:
„Doch heute ist alles anders: Du hast die Augen offen. Du erkennst uns. Und Du verstehst ganz offenbar, was wir sagen. Zunächst ist Gabi sehr lange bei Dir.“ Ich zog sie an mich und wollte sie nie mehr loslassen. „Dann komme ich dazu. Mit Deinem mächtigen Arm ziehst Du mich fest an Dich heran. Unser Sönke ist wieder da! Gabi spricht mit Dir spanisch, ich spreche mit Dir kurz auch in der Monchichi-Sprache. Mit Deinem Beatmungsschlauch im Hals kannst Du leider nicht antworten, aber man sieht Dir an: Du würdest so gerne. Zwischendurch dämmerst Du immer wieder weg, Du bekommst nach wie vor sedierende Medikamente und man merkt auch, dass unser Besuch Dich anstrengt.
Weil ich nicht weiß, ob es Dir jemand schon gesagt hat, erkläre ich Dir in Kurzform, wo Du überhaupt bist. Und was Dir zugestoßen ist. Du verziehst Dein Gesicht, als würdest Du uns sagen wollen: So eine Riesenscheiße!“
Ich musste immer wieder üben, ohne Beatmungsgerät zu atmen. Ich wurde im Bett aufgesetzt, um mein Gleichgewicht zu trainieren. Und die Krankenschwester plante auch, mich mit dem Geschmack von Cola oder alkoholfreiem Bier zu erfreuen, per kleinem getränktem Schwämmchen, das Dir in den Mund gelegt wurde. Das alles habe ich längst vergessen. Kann sein, dass ich es gar nicht so recht mitgekriegt habe, was man mir reichte. Aber diese Krankenschwester hat mich offenbar mit Liebe gepflegt, und sie hat so ihren Teil zu meiner Genesung beigetragen.
Doc Thomas kam bei Gabi und Hans noch auf einen netten Plausch vorbei, er versprach, mich so oft wie möglich zu besuchen. Kurz darauf war Visite, die Ärzte besprachen meinen Zustand. Alle hofften, dass die rechtsseitige Lähmung vielleicht doch noch zurückgehen würde. Auch der Leitende Arzt der Neurochirurgie hatte durchaus noch Hoffnung. Meine Angehörigen erfuhren, dass meine Operation am linken Gesichtsschädel schon am nächsten Tag erfolgen sollte.
15.1.2021 „Heute wurdest Du nochmals operiert. Gabi schickt mir eine Nachricht, dass offenbar alles gut verlaufen ist. Über die Operation wurden wir bereits aufgeklärt, Gabi musste ihre Zustimmung geben. Es geht darum, die verschobenen Knochen in Deiner linken Gesichtshälfte wieder richtig zusammenzufügen. Um später keine Narben zu sehen, wirst Du dafür durch den Mund, durch die Augenhöhle und unter den Augenbrauen operiert. Es geht darum, einen eingeklemmten Nerv zu „befreien“, Deine Gesichtskonturen wieder herzustellen und die Sichtachse Deines linken Auges so zu korrigieren, damit Du nicht doppelt siehst. Bei der Operation werden mehrere Platten montiert, die Deine Knochen zusammenhalten. Leider raten die Ärzte dazu, die Platten nach einiger Zeit auch wieder zu entfernen, sprich: noch eine Operation. Und es wird mindestens noch eine weitere Operation nötig sein, nämlich um die momentan provisorische Schädeldecke durch eine haltbarere zu ersetzen. Bis dahin wirst Du beim Aufstehen oder zum Beispiel auch bei der Reha einen Helm tragen müssen, um Deinen Kopf zu schützen.“ Was Ärzte heute können. Hut ab.

Gabi, Hans und meine Mutter hatten eine Menge an Formalitäten zu erledigen. Aber alle meine Freunde und Verwandten waren heilfroh, dass ich, der ich gerade noch mit dem Leben davongekommen war, so große Fortschritte machte.
Klar ist, dass es für meine Angehörigen ein schlimmer Schock war. Klar ist auch, dass sie verdammt Vieles zu regeln hatten. Ich glaube, dass das mir sehr bald nach dem Aufwachen bewusst wurde, obwohl ich noch vor mich hin „sedierte“. Ansonsten habe ich wenig mitgekriegt.
Aber eines kriegte ich mit: dass Thomas Wort hielt. Manchmal dauerte es Tage, bis wieder Gabi oder Hans zu mir durchgelassen wurden. Dann kam Thomas zu mir, und ich war ihm verdammt dankbar dafür!
Am 16.1. hatte meine Mutter 80. Geburtstag!! Und sicherlich ihr traurigster. Hans und Gabi kamen trotzdem zu mir. Allerdings war die Wochenendmannschaft da. Warum auch immer, aber unter ihnen galten strengere Regeln. Erstmal mussten die beiden warten und warten, dann durfte nur einer zu mir. Hans ließ Gabi den Vortritt. Sie hatte ein paar Fotos von Gabi, der Familie und mir ausgedruckt. Als Gabi die Fotos und mit Hilfe einer Schwester befestigt hatte, fing ich an zu weinen.
Es war nicht das einzige Mal, das Gabi berichtet, dass sie mich weinen gesehen hätte. Aber in meiner Erinnerung war da kein Weinen. Und die Fotos: irgendwie hatte ich verpasst, wer sie aufgehängt hatte. War ich noch nicht ganz da? Oder hatte ich einfach geschlafen? Aber es war klar, dass nur Gabi die Fotos aufgehängt haben konnte. Meine Logik war noch im Koma.
Auch sonst wirkte ich traurig. Bedrückt fuhren Gabi und Hans nachhause.
Doch man musste sich in positiven Denken üben. Und immerhin: Von den Schwestern kam die Nachricht, ich hätte aufrecht im Bett gesessen.
17.1. Gabi sprach abends noch mit der Klinik: Heute saß ich wohl 45 Minuten auf einem Stuhl! Hans schrieb: „Wenn ich mich erinnere, wie es Dir noch vor wenigen Tagen ging, ist das ein enormer Fortschritt!“
Am 18.1. haben Christian, meine Frau, mein Bruder und meine Mutter ein Online-(Teams)
Gespräch mit zwei Jungs vom Kriseninterventionsteam der Bergwacht. Sie haben mit der Rettungsmannschaft gesprochen und alle entscheidenden Details meines Unfalls zusammengetragen. Eigentlich hätte, trotz Corona, ein Treffen vor Ort in Kochel bei der Bergwacht stattfinden sollen. Aber für Gabi war dieser Ort nach den Geschehnissen zu belastet, und so entschied man sich für ein virtuelles Meeting am Computer.
Die zwei Bergwachtler erklären ihnen nochmal ausführlich, wo Ihr unterwegs wart, wie das Gelände beschaffen war und welche Herausforderungen die Retter bei Deiner Bergung zu bezwingen hatten. Für meine Angehörigen war es nicht einfach, so nah an meinem Unglück dran zu sein. Doch das Wissen rund den Unfall schenkt auch Erleichterung, wenn es darum geht, die vielen Fragen beantwortet zu bekommen und das Trauma zu verarbeiten. Die Männer von der Bergwacht loben nochmal ausdrücklich Christians Reaktion, der so schnell wie möglich Hilfe herbeirief und eine genaue Position durchgeben konnte. Meine Familie bedankte sich ausdrücklich bei den Rettern für ihr mutiges und schnelles Eingreifen. Wären sie nicht gewesen und hätte der Hubschrauber nicht fliegen können, wäre ich heute wohl nicht mehr da. Es stand auf Messers Schneide. Meine Verletzung war sehr schwer. Und meine Körpertemperatur betrug nur noch 34° C.
Nach der Besprechung mit der Bergwacht bekommt Gabi noch gute Nachrichten aus dem Krankenhaus. Wahrscheinlich wird schon bald die Kanüle aus meinem Hals entfernt und ich kann wieder normal atmen. Auch für das Training mit den Logopäden ist das sehr wichtig.
24.1. „Du bekommst schon erste Reha-Maßnahmen und machst auch gut mit, bis auf die Logopädie, die Du offenbar nicht sehr magst. Du hast wieder etwas Fieber, noch wissen die Ärzte nicht, woher es kommt.“ Die Logopädie mochte ich tatsächlich nicht. Warum ich sie nicht mochte, erkläre ich an anderer Stelle.
27.1. „Nachmittags melde ich mich dann bei Dir. Ich erzähle Dir ein bisschen, was alles so passiert ist und dass ich Dich morgen besuchen darf. Du freust Dich. Mein Eindruck ist: Du kannst zwar nicht sprechen, aber Dich doch ganz gut verständigen.“ „ Hm“ = Ja, „Hm…hm“ = Nein. Oder so. Ich kann anscheinend Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken. Freude und Missfallen rüberbringen. Am Telefon. Und wenn er kommt, dann war es Hans manchmal, als ob er ein „Ja“ gehörte hätte, und manchmal „Hi“ oder andere kurze Wörter. So oft er es hörte, sprach er mich darauf an. Jedes Mal war ich perplex. Da war kein „Hi“!
Hier enden die Aufzeichnungen meines Bruders. Ich war offensichtlich mehr oder weniger über den Berg. Wie weit ich noch kommen würde, war noch völlig unklar, aber was für die Verwandten und Freunde erst mal hauptsächlich zählte war, dass ich noch lebte.
* Namen geändert












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