Rückzug
- soenk3
- 18. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Juli

Während dieses Ungetüm aus Stein nur wenige Sekunden später schon im Schnee des Gletschers am Fuße Wand begraben liegen würde, steht Rupert immer noch in seinem Stand. Er lebt – und schreit. Er schreit mit einer Lautstärke, dass es mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Minuten lang kommt es mir in der Erinnerung vor, wie Rupert da unten schreit, flucht, stöhnt und heult. Kein Zweifel – er ist schwer getroffen. Aus der Ferne versuchte ich, ihn zu beruhigen, ich sei gleich bei ihm und alles würde gut. So schnell es ging, baute ich meinen Stand ab und seilte zu meinem Kameraden hinunter, der bald zu schreien aufgehört hatte und jetzt nur noch hin und wieder herzhaft wimmerte oder stöhnte. Sein Gesicht war blutverschmiert. Wo das Blut herkam, war weder ihm noch mir klar. Der Helm war seitlich gebrochen, doch das eigentliche Übel war die Schulter. Jede Berührung oder Bewegung seines Armes löste unweigerlich ein ohrenbetäubendes Jodelkonzert aus.
Rupert erzählte mir später, er hatte gedacht, der Arm sei komplett abgeschlagen, so schmerzte die Schulter. Aber vor allem hing der Arm herum, als sei er tot. Der riesige Felsblock habe Rupert wie ein Zug gerammt. Dieses Gefühl, diese Wucht werde er nie vergessen. Er sei mit dem Gesicht an die Wand geklatscht und er habe ich unter anderem die Nase gebrochen. Daher das Blut. Wie er berichtete, lief das Blut wegen der Kälte und Feuchtigkeit während seines Marsches über den Gletscher immer weiter. Bis er im Krankenhaus ankam.
Klar war, dass mein Partner kaum noch alleine vom Berg kommen würde. Noch würde ihm irgendein Hubschrauber Hilfe bringen, denn unsere Handys lagen am Wandfuß wohl geborgen im Rucksack. Natürlich schimpfte mein Partner. Zurecht. Zu meiner Absolution sei gesagt: Von irgendwem (Rupert?) erfuhr ich im Nachhinein, dass da hinten im letzten Winkel des Argentièregletscher sowieso niemals ein Netz zu kriegen sei.
Doch um zurückgebliebene Rucksäcke zu trauern, half nun nicht mehr weiter. Ich hielt mich also nicht länger mit Schuldgefühlen auf, sondern dachte und operierte jetzt völlig nüchtern und rational. Viel wichtiger als der Rucksack erschien mir in diesem Moment, dass der Klettergefährte überhaupt zum Schimpfen in der Lage war. Er war bei Sinnen, er konnte alle seine Körperteile bewegen, bis auf seinen Arm, und größere Mengen Blut waren auch nicht zu sehen. Wir würden es zur Hütte schaffen, daran ließ ich jetzt keinen Zweifel aufkommen. Ich meine, dass ich auch selbst fest daran glaubte. So ganz selbstverständlich war das nicht – waren wir doch gerade einmal ein oder zwei Seillängen vom Col de Triolet entfernt. Das hieß leider, dass uns jetzt geschlagene 400 Meter annähernd vertikaler Abstieg bis zum Gletscher bevorstanden. Würde mein Partner zum Abseilen in der Lage sein? Würden unten, wo die Rinne enger war, vielleicht weitere Gesteinsbrocken auf uns herabregnen? Würde uns die Dunkelheit zuvorkommen?
Gut, dass ich nicht alles im Rucksack gelassen hatte: Triumphierend angelte ich einen Flachmann aus meiner Jackentasche – mein Bruder hatte ihn mir kürzlich zum Geburtstag geschenkt, mit den Worten, so etwas müsse jeder gewissenhafte Bergsteiger immer bei sich haben. Alkohol – seit Menschengedenken die beste Medizin, das beste (Seelen-) Schmerzmittel, eine Art Universal-Spezifikum. Siegessicher hielt ich den Schnaps Rupert unter die Nase. Doch unbegreiflicher Weise hatte mein Partner jeglichen Appetit verloren. Nein. Wollte er nicht. Also gut, zurück in die Jackentasche. Sollte ihm das Handy lieber sein? Natürlich holte ich die Flasche sogleich wieder heraus, als ich den Kameraden zum nächsten Stand abgeseilt hatte. So viel Zeit muss sein, dachte ich mir, nahm einen tiefen Schluck und genoss es, wenigstens irgend etwas zum Trinken dabeizuhaben, und gut gerüstet zum Abseilen war damit auch.
Rupert war, nunmehr einhändig, nicht mehr in der Lage, Knoten zu binden. Hätte es doch besser den unerfahreneren Bergsteiger erwischt: Mein Handling saß noch nicht immer ganz souverän, und umgehend kam es von Rupert, es sei jetzt aber doch Eile geboten. Ziemlich direkt meinte ich, ich müsse mich jetzt wirklich konzentrieren, und die leise Kritik verstummte sofort. Ab jetzt schien Rupert die Geduld in Person. Und ab jetzt sollte es bestens laufen. Auf beiden Seiten. Ich bin heute noch stolz, wie ich Rupert da runter gebracht habe. Und Rupert verbiss sich den Schmerz und trug das seine dazu bei, dass diese Abseilaktion eine Runde Sache wurde. Wir arbeiteten nun, noch weit mehr als im Aufstieg, perfekt zusammen.
Ich ließ also meinen Freund ab. Da unten, im nächsten Stand, musste er irgendwie alleine klar kommen. Daher schien es das Beste zu sein, ihn gleich über die volle Länge des aneinander geknüpften Doppelseiles abzulassen – so übersprang er jeweils großzügig einen Stand. Während ich immer mühsam hinterherseilen musste, wartete Rupert schon hundert Meter weiter unten.
Eine Herausforderung blieb noch: Der Bergschrund. Im Aufstieg hatte Rupert hier geführt. Jetzt musste ich ihn natürlich zuerst ablassen – mir winkte jetzt der rückwärtige Vorstieg über die überhängende Kante, während mein Partner mich, so gut es ging, aus der Spalte heraus sicherte. Doch auch dieses Problem war bald gelöst. Wir waren dem Desmaison-Couloir entkommen. Diese Eingehtour, die neben den gewaltigen Nordwänden der Nachbarberge wie eine lockere Vormittagstour aussieht, hätte uns leicht zum Verhängnis werden können. Doch der gewaltige Felsbrocken, der meinen Partner getroffen hatte, blieb der einzige, der heute gefallen war. Nur ein einziger Stein, und dann so ein Riesending wie ich es bisher noch nicht fallen gesehen habe, und dann schlägt der ausgerechnet genau in den Stand ein!
Wir standen am oberen Rand des Gletschers. Endlich hatte ich mein Handy wieder – doch auch hier funktionierte es nicht. Diese Abseilaktion hatte mir den letzten Nerv und die letzte Kraft geraubt. Geraume Zeit hatte ich nur auf dieses eine Ziel hingearbeitet: Der Wand zu entkommen. Jetzt waren wir beide draußen, ich war absolut leer und brauchte dringend eine Pause. Dagegen war Rupert daran gelegen, möglichst schnell von hier zu verschwinden. Wer konnte wissen, ob ihn das Adrenalin noch bis zur Hütte tragen würde? Und Rupert konnte unmöglich noch mit Skiern abfahren. Deswegen gingen davon aus, dass ich Rupert schon nach kurzer Zeit einholen würde. Er schwang sich irgendwie seinen halbleeren Rucksack über die Schultern und machte sich sogleich erstaunlich zügig in Richtung Hütte davon – unter normalen Bedingungen zwei Stunden Fußmarsch. Rupert biss die Zähne zusammen und verschwand in der Dämmerung.
Ich war völlig platt. Doch ich konnte hier nicht bleiben: Erst zurück auf der Hütte wäre ich in Sicherheit.
Also machte ich mich daran, einen Riesenhaufen Ausrüstung auf einen einzigen Rucksack zu packen – ein schier unmögliches Unterfangen. Ich hätte das unnötige Zeug einfach unter der Wand parken sollen. Ich hätte genauso gut am nächsten Tag noch aufsteigen können. Aber manchmal bin ich einfach stur. Ich gab nicht eher Ruhe, bis ich alle Sachen auf den Rucksack gepackt hatte. Um mit diesem 35kg-Ungetüm auf dem Rücken nicht völlig im tiefen Schnee zu versacken, stellte ich mich wieder auf die Skier. Überflüssig, zu erwähnen, dass ich mich hier nicht, wie einen Tag vorher, auf einer planierten, leicht geneigten Skipiste befand. 35 Grad Hangneigung, Bruchharsch. Auch das zusätzliche Paar Skier, das ich mir über die Schulter legte, verbesserte meinen Abfahrtsstil nicht: Es gab keine Kurve, in der ich nicht im Schnee gelegen hätte. Mit einem 35kg-Rucksackmonster auf dem Rücken und einem Paar Reserveskiern auf den Schultern im Tiefschnee aufzustehen, ist kein wirklicher Spaß. Und mit jedem Mal wurde das Aufstehen schwerer. Als ich auf diese Weise irgendwie die ersten paar hundert Meter geschafft hatte, setzte ich alles auf eine Karte: Die Hangneigung nahm ab. Wenn ich im Schuss bis auf den flachen Gletscher käme, könnte ich dort noch ein Stück weitergleiten und würde mir manches Kurvendebakel sowie ein gutes Stück Fußmarsch sparen. Also los.
Ich weiß nicht mehr, wie weit ich genau kam, doch allzu viel war es wohl nicht. Plötzlich verriss es mir einen der Skier, über die mir ohnehin jegliche Kontrolle gefehlt hatte. Ich landete kopfüber im hier schon deutlich festeren Schnee, der Riesenrucksack drückte mich in eine reichlich verzweifelte Stellung, und während ich versuchte, mich aus dem Würgegriff des Gegners zu befreien, stellte ich mir vor, was ein Zuschauer wohl zu dieser Vorstellung gesagt hätte. Wieder war ich gestürzt, zum x-ten Mal, wieder kämpfte ich mich hoch. Doch ich musste zu meinem großen Ärger sogleich feststellen, dass die Bindung des linken Skis bei diesem Manöver zu Bruch gegangen war. Schöner Mist. Aber was halfs, es musste weitergehen, dann eben ohne Skier. „I'm walking“, summte ich sogleich vor mich hin und stapfte, jetzt gar mit zwei Paar Skiern, auf jeder Schulter eines, weiter Richtung Hütte, die noch endlos entfernt schien. Inzwischen war es dunkel geworden, und ich konnte Rupert nirgends sehen. Immerhin fand ich aber bald, im Licht meiner Stirnlampe, seine Spuren. Leichte, seichte Abdrücke im oberflächlich verfestigten Schnee. Ich dagegen brach bei jedem Schritt bis zum Knöchel, manchmal auch bis zum Knie ein, wenn es Bruchharsch hatte. Kein Wunder bei meinem Gesamtgewicht.
Rupert war schnell. Aber er machte sich Sorgen um mich. Er war nicht weit gekommen, da setzte er sich die Stirnlampe auf den Kopf: Rückwärts, damit ich ihn besser sehen könnte. Und die Sorgen wurden immer größer. Wo bleibt er nur? Ist er in eine Gletscherspalte gefallen? Skiunfall? Erschöpfung? Was tun? Zurückgehen, mit einer derartigen Verletzung? Rupert musste hoffen, dass irgendwer auf der Hütte zu mobilisieren wäre. Er musste hoffen, dass er es selbst noch zur Hütte schaffen würde. Im Nachhinein sagte er, er glaube, dass die Sorge um den Partner ihn länger durchhalten ließ.
Dieser Marsch war zum Verzweifeln. Ich war völlig platt. Der Mond ging auf und leistete mir stille Gesellschaft. Noch ein Schritt. Und noch einer. Jeder Schritt ein Kampf, und es fehlten immer noch tausende von Schritten. Wie ein Verdurstender in der Wüste fühlte ich mich. Aber aufgeben tu ich so schnell nicht: immer einen Fuß vor den anderen setzen, und irgendwie würde ich irgendwann bei der Hütte ankommen.
Ich will nicht jeden Schritt einzeln beschreiben: Irgendwann stand ich tatsächlich am finalen Gegenanstieg, der mich noch von der Hütte trennte. Noch bevor ich dort anlangte, näherte sich ein Helikopter. Rupert musste längst da sein. Er war, trotz schwerer Verletzung, regelrecht geflogen!
Der Hubschrauber setzte einen Mann ab, dann flog er eine Runde über den Gletscher - um mich zu suchen. Gletscher rauf, Gletscher runter – kaum eine Minute für den Helikopter. Schon kehrte er zurück. Noch bevor ich die rettende Hütte erreicht hatte, war die Kunde wohl zum Piloten gedrungen: Nummer 2 ist da! Abflug Nummer 1! Das letzte, was Rupert vor dem Flug hörte, war, dass ich wohlauf war und es fast zur Hütte geschafft hätte.
Rupert war, zur Begeisterung des Hüttenwirtspaares, mit Steigeisen an den Schuhen, vollgeblutet von oben bis unten, in Aufenthaltraum gespoltert. Schnell merkten sie, dass da etwas nicht stimmen konnte.
Zwei junge Bergsteiger kamen den Abhang von der Hütte herab, mir entgegen. Ohne lange zu zögern, trat ich dem ersten meinen Rucksack ab, der zweite übernahm gleich freiwillig die beiden Skier.












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